Freitag, 12. Juni 2015

Die chinesische Melodie


Die chinesische Melodie
von
Edith Kitzelmann

Wir waren in China. Genauer gesagt auf dem Huangshan. In einer Gebirgsregion im Südosten Chinas, die genau so heißt wie ein Berggipfel. Es gibt in der Region Huangshan auch eine Stadt Huangshan, die in der gleichnamigen Landschaftszone Huangshan liegt. Das alles befindet sich im südlichen Teil der Provinz Anhui. Das ist auf den ersten Blick vielleicht etwas verwirrend, das mit dem Gebirgszug Huangshan, der auch „die gelben Berge“ genannt wird.

Gerade angekommen erkundeten wir die kleine Stadt Tankou, am Fuße des Berges Huangshan. Tankou platzte förmlich aus allen Nähten vor Touristen, chinesischer Touristen. Sie kamen in immer neuen, bis auf den letzten Platz gefüllten, Bussen hier an. Frühmorgens mit dem Sonnenaufgang setzte ihr nicht enden wollender Strom ein. Gegen Mittag waren endlich alle Reisegruppen auf dem Berg angekommen. Abends, wenn die Sonne die Nebel hinter den Bergen rot färbte, stiegen sie wieder in ihre, auf sie wartenden, Busse ein. Als letztes setzten sich die Reiseleiter mit ihren bunten Fähnchen und den Megafonen auf ihre Plätze. Danach kehrte wieder Ruhe ein, im Ort Tankou.
Am ersten Tag nach unserer Ankunft gingen wir abends essen und dann war ich nur noch müde. Es war eine lange Fahrt bis hierher gewesen. Am zweiten Tag gab ich uns mehr Zeit, um ein paar mal auf der Straße die am Hotel vorbeiführte, auf und ab zu gehen, zu schauen, den kleinen Ort zu erkunden. Am Morgen standen hier noch die Reisebusse. Der Parkplatz war direkt unter unserem Hotelzimmerfenster. Jetzt, am frühen Abend, stand dort nur ein einsamer Bus, ziemlich verlassen auf der großen, leeren, asphaltieren Fläche. Nur gegenüber „war noch was los“. Die Musik war selbst im Hotelzimmer noch sehr gut zu hören und der Grund gewesen, warum ich gestern Abend nicht hatte einschlafen können, obwohl ich von der langen Reise müde genug gewesen war.
Neugierig gingen wir dorthin, immer der Musik nach. Zwei Lautsprecherboxen, geschickt rechts und links vor der Eingangstür direkt auf dem Gehweg platziert, sorgten für die Beschallung der Straße. An ihnen kam niemand vorbei. Nicht ohne auf die Fahrbahn auszuweichen oder über die dünnen, grauen Kabel zu steigen, die sich quer über den Fußgängerweg spannten. Wir entschieden uns für die erste Variante. Überfahren zu werden war weniger wahrscheinlich, als im Dämmerlicht zu Fall zu kommen. Um diese Zeit kam kaum noch ein Auto oder ein Bus vorbei, höchstens ein Lastwagen. Die Motorräder hörten wir schon von weitem. Sie rasten laut knatternd vorüber. Fahrradfahrer auf Gehweg oder Straße retten sich und uns vor einem drohenden Zusammenprall mittels einer schwungvoll ausgeführten kühnen Kurve, für den Fall, daß wir nicht schnell genug zur Seite springen konnten. Die Straße erschien uns zum Laufen viel sicherer.

Wir gingen hinein. Der kleine Laden verkaufte so ziemlich alles. Lebensmittel, Elektroartikel, Schreibwaren, Hygieneartikel, CD’S, was man so braucht im Alltag und auf Reisen.
„Vielleicht haben sie das Lied?“ fragte ich mehr mich halblaut eher selbst als meinen Begleiter.
„Wir wissen doch gar nicht wie das heißt und wer es singt“.
Das war ja das Problem.
„Aber als ich vorhin unter der Dusche stand haben sie es gespielt“, wandte ich ein.
So schnell gab ich nicht auf.
„Ich singe die Melodie!“ triumphierte ich über alle Sprachschwierigkeiten hinweg.
Singen verbindet, ist weltweit erfolgreich und Sprache benötigt man dafür kaum. Es kam ja auf die Melodie an, nicht auf den Text. Das war die Lösung. Warum war ich nicht schon früher auf diese gute Idee gekommen?
Es handelte sich um eine einfache Melodie, die sich augenblicklich zu einem Ohrwurm entwickelte, hatte man sie nur einmal gehört. Was sollte da also so schwierig sein?
Wir hörten den chinesischen Schlager das erste mal in einer Show die wir am Westsee besuchten. Diese Mitternachtsshow begeisterte uns beide, auch wenn mir die Lautstärke der Aufführung fast einen Hörsturz breitet hätte.
Das Theater in Hangzhou entdeckten wir ganz überraschend an unserem ersten Abend am Westsee. Wir kamen zurück von einem wunderschönen Tag, Hand in Hand auf dem Weg ins Hotel Dong Po. Es war ohrenbetäubender Lärm, der uns aufhielt. Zuerst dachen wir an eine Diskothek, deren überlaute Musik aus einem der Hinterhöfe schallte. Vorsichtig von Neugier getrieben gingen wir durch die Toreinfahrt. Dahinter sahen wir eine offene Tür. Wir schoben uns langsam in den leicht abgedunkelten Raum. Auf einer hell erleuchteten Bühne verabschiedeten sich gerade Künstler in ausladende goldene Gewänder gekleidet von ihrem Publikum. Ich war erstaunt, eine solche Pracht in einem Hinterhaus in diesem unscheinbaren Hof zu sehen. Man winkte uns herein. Wie sahen,  dass die meisten der Zuschauer bereits gegangen waren. Ein junge Mann kam auf uns zu:
„ Kommt morgen“.
Er winkte uns mit zu kommen, führte uns durch den Saal, eine Treppe hinauf, einen Gang entlang. Bis wir schließlich draußen vor dem Haupteingang in der Parallelstraße standen. Überrascht schauten wir die Straße entlang. Das Theater lag ja doch nicht in einem Hinterhof. Von dieser Straße aus hatten wir das Gebäude am Morgen für ein Kino gehalten. Der Mann deutete auf ein Plakat, dass an der Hauswand hing.
„Kommt morgen.“
Gut ausgerüstet mit meinen gelben Ohrstöpsel, nahm ich im Parkett Platz, als eine zweistündige Trommelfellfolter begann. Ich wußte von Anfang an, wann die Show  zu Ende sein würde, etwas ungewöhnliches für eine Besucherin, die zum ersten mal die Show miterlebt. Doch ich kannte das letzte Bühnenbild. Die Show selbst war atemberaubend. Auf der Bühne gab es einen ständigen Wechsel von Sängern, Komödianten, Artisten. In wunderbaren, phantasievollen Kostümen schwebten sie über die Bühne, drängten sich durch die Reihen der Zuschauer. Sie tanzten, sangen, zogen sich an schweren, roten Samtvorhängen bis unter die Kuppel des Theatersaales hoch. Es war himmlisch und entführte uns in eine Zaubermärchenwelt. Das Publikum saß bei heißen und kalten Getränken vor exotischen Obsttellern riesigen Ausmaßes oder Chips, Poppkorn und Keksen. Jeder hatte vor sich in einer Tasche, die an der Rückenlehne des Vordersitzes angebracht war, zwei überdimensionale mit einem Scharnier verbundene Plastikhände, befestigt an einem langem Stiel. Meine waren grün, die meines Begleiters gelb. Man schlug sie laut klappernd gegeneinander, indem man den Stiel heftig hin und her bewegte, wann auch immer eine Darbietung zu Ende war.
Ein Sänger steht gerade auf der Bühne. Er ist jung, trägt Blue Jeans, hat eine blonde Kurzhaarfrisur, der er mit sehr viel Gel in die richtige Formwelle gezwungen hat. Die ersten Worte seines Liedes sind kaum gehört schon singen alle mit.
„Das Lieblingsstück aus der Hitparade“, brülle ich in das Ohr meines Begleiters.
Ich verstehe seine Antwort nicht. Es ist zu laut. Ich kann im Moment nichts unterscheiden. Da ist der Lärm, das Plastikhändeklatschen, die alles übertönende Musik, bis an die Schmerzgrenze. Und da ist dieses Lied, das sich augenblicklich in mir einen Platz erobert, im chinesischen Teil meines Herzens. Es ist ein Abend von Chinesen für Chinesen und für uns, für meinen Begleiter und mich. Ich habe heißen Tee bestellt, obwohl es hier drinnen sehr heiß ist. Die Kellner kommen ständig mit Teekesseln herum, um heißes Wasser nachzuschenken. Ein Abend mit Tee ohne Ende. Bis die Tänzerinnen in den goldenen Kostümen das letzte Bild gestalten werden.
„Halb so laut wäre es noch viel schöner gewesen“, seufzte ich, als wir das Musiktheater verließen und ich endlich die Lärmstop aus meinen Gehörgängen entfernte.
An diesem Abend spazierten wir noch lange am Westsee entlang, bis sich das Rauschen in meinen Ohren in Stille wandelte, um später im Rauschen der Blätter Ersatz zu finden. Wir hielten uns an den Händen den Mond betrachtend, der sich im Wasser spiegelte, sahen auf die kleinen Wellen, auf die Blätter der Lotosblumen, sahen unsere Gesichter hell im Mondlicht auf dem Wasser des Sees gespiegelt.
Von da an hörten wir jeden Abend die Musik bis in unser Hotelzimmer herüberschallen. Wir wohnten sehr zentral, direkt neben dem Hinterhof des Theaters. Jetzt erkannten wir immer, an welcher Stelle der Vorstellung man sich gerade befand.
Den Favoriten aus der Hitparade hatte ich seitdem angenehm in Erinnerung. Wir hörten den Song danach noch ein- oder zweimal. Jedes Mal gefiel er mir besser.
Jetzt waren wir hier auf dem Huangshan und ich war der Gelegenheit an diese Musik zu kommen so nahe wie noch nie auf dieser Reise. Ich ging auf eine der Verkäuferinnen in dem kleinen Laden zu, summte das Lied. Eigentlich kann ich gar nicht singen. Ich kann keinen Ton halten und höre nicht, ob es richtig oder falsch ist was ich singe. Jetzt aber war ich zuversichtlich. So schwierig konnte es doch nicht sein, diese einfache Melodie annähernd richtig zu summen. Es handelte sich um einen sehr populären Song und jeder kannte ihn. Mein Begleiter jedenfalls erkannte sofort was ich meinte. Bald waren wir von drei sehr netten, freundlichen jungen Frauen aus dem Laden umringt. Sie alle sprachen etwas englisch, was die schwierige Sache sehr erleichterte. Bald wussten sie von uns wie wir heißen, wo wir her kamen, wohin wir noch weiterreisen wollten, dass wir nicht verheiratet sind, keine Kinder haben, das China uns sehr gut gefiel und ich in der Forschung arbeite. Ihre Namen konnte ich mir in der kürze der Zeit bis auf einen nicht merken und vergaß die anderen leider bereits während unseres Gesprächs, ihre hübschen Gesichter nicht. Sie waren so ausgelassen, fröhlich und so guter Dinge.
Hinter dem Ladentisch in einer Nische saß Minn vor einem Computer. Mir schien es, als ob sie Lagerbestände überprüfte. Hier also war die Quelle ihrer Musik. Sie legte mal eine CD ein, mal lud sie einen Song aus dem Internet herunter. Ich summte. Minn lächelte freundlich. Sie legte eine neue CD ein. Ich schüttelte den Kopf, summte noch einmal und zeigte auf die Lautsprecherboxen draußen vor der Tür. Da war die Musik vorhin heraus gekommen, von da aus schallte das Lied über die Straße, erklärte ich ihr. Ich zeigte auf meine Armbanduhr. Um die Zeit hatten sie es gespielt. Ob sie sich erinnerte? Ich summte, Minn lächelte und nickte.
Wußte sie was ich meinte? Dann hatte ich eine neue Idee.
Ich würde das Lied noch einmal summen und sie könnte mir den Titel aufschreiben. Dann musste ich nur in ein Musikgeschäft gehen und kaufen, was sie mir aufgeschrieben hatte. Sofort holte ich einen Stift und einen kleinen Block, den ich für solche oder ähnliche Situationen im Urlaub stets bei mir trage, aus meiner Gürteltasche. Ich zeigte auf die Lautsprecher dann auf meine Uhr. Ich summte, klopfte die Melodie mit meinen Fingern auf den Tresen, bat sie, den Namen des Songs auf den Zettel zu schreiben.
„Aufschreiben! Ja, ja aufschreiben“, forderte ich sie auf.
Sie verstand mich und schrieb mir den Titel des Stücks auf. Ich flog direkt auf eine rosarote Wolke zu.
Geschafft! Der nächste Musikladen würde mich sofort  als eine neue Kundin begrüßen können. Wir bedankten uns und winkten ihnen zum Abschied durch das Ladenfenster zu. Den Zettel klebte ich noch am selben Abend in mein Reisetagebuch ein, das ich unterwegs immer schreibe. Hier war er bestens aufgehoben. Hier konnte er ganz bestimmt nicht verloren gehen. Am nächsten Tag fuhren wir in aller Frühe ab. Das kleine Geschäft hatte noch geschlossen. Gerne hätte ich ihnen Adieu gesagt.
      Es ging wieder zurückgekehrt nach Shanghai, der Stadt in der unsere Reise durch China begann. Sofort schmiedete ich Pläne für den kommenden Tag. Zum Bund wollten wir, zu dem berühmten Ufer am Huangpufluß. Danach in die Einkaufszentren. Was an oberster Stelle auf meinem Einkaufszettel stand, war eine CD mit dem das Lied, das mir seit unserem Abend in dem kleinen Gemischtwarenladen auf dem Huangshan erst recht nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Leider hatten wir es danach nie wieder gehört. Nun würde ich endlich die CD kaufen können. Hier in Shanghai würde es kein Problem sein, eine bestimmte Musik zu bekommen. Wir waren in einer der größten Weltstädte unseres Erdballs, nicht auf dem Lande und nicht abseits in dem Bergen. Ich bringe mir sehr gerne Musik aus meinen Urlaubsländern mit und diese CD würde meine Sammlung um ein besonderes Stück bereichern. Ich stellte mir vor, wie ich sie zu Hause in den CD-Spieler einlegen, mich zurücklehnen und mich an unseren Urlaub und an die Show am Westsee zurückerinnern würde. Ich freute mich jetzt schon darauf.
Als wir zu einem der Einkaufzentren kamen, war die Sonne längst untergegangen. Die Läden hatten bis nach Mitternacht geöffnet, das war kein Problem. Mein Reisetagebuch steckte ich vorsorglich bereits am Morgen in meinen kleinen, schwarz-blauen Rucksack. Den Musikladen hörten wir schon lange bevor wir ihn sahen. Vorsichtig löste ich den Zettel vom Blatt in meinem Tagebuch ab, ohne die Seite allzu sehr zu beschädigen. Ich hielt ihn ganz fest, das Buch steckte ich in den Rucksack zurück. Ich ging in den Laden hinein. Ohne mich in den Regalen um  steuerte ich gleich auf einen der Verkäufer zu und zeigte ihm meinen Zettel. Er nahm ihn mir aus der Hand, hielt ihn ins Licht.
„Tut mir leid. Haben wir nicht“, sagte er.
Sein Englisch war perfekt. Ich fragte ihn, ob er mir einen Musikladen möglichst hier in der Nähe nennen könne, in dem ich die CD bekäme.
„Auf dem Zettel steht Lautsprecherbox“, sagte er freundlich.
„Auf dem Zettel steht Lautsprecherbox?" wiederholte ich ungläubig.
 Er nickte.


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