Achten Sie auf die Heizungsgrenze
Edith Kitzelmann
Die
Kälte kriecht langsam in mir hoch. Sie macht mich zunehmend unbeweglicher.
Zuerst ist die Veränderung an meinen Fußsohlen spürbar, verwandelt sie in zwei
Flächen, deren Kälte sich ausbreitet, um nach und nach zehn Zehen mit
einzuschließen. Ich spüre, wie sie alles bis zu den Knöcheln hinauf, unter
ihren eiskalten Schutz nimmt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt sind meine Füße nur
noch als Eisklumpen zu fühlen. Unaufhörlich bahnt sie sich ihren unheilvollen
Weg meine Unterschenkel hinauf bis zu den Knien. Hier angekommen legt die
Kältewelle eine Rast ein, als wolle sie verweilen, ein bißchen ausruhen, um
neue Kraft zu schöpfen, um dann noch effektiver meinen Körper auskühlen zu
können. Ich ziehe die Decke fester um mich. Mein linker Daumen fühlt sich taub
an, blutleer und steif.
Hier in diesem Teil des Landes
gibt es weder Eis noch Schnee. Die Temperaturen fallen kaum unter 10°C. Die
Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch. Kleine Wölkchen meines warmen Atems vermischen
sich mit der abgestandenen Luft im Zimmer. Ich wage nicht, ein Fenster zu
öffnen, habe Angst noch mehr kalte Feuchtigkeit hinein zu lassen. Draußen
regnet es, wie seit Tagen schon. Der Himmel zeigt sich tagsüber eisgrau,
wolkenverhangen, die Nächte ohne Sterne, ohne Mond, mit einem diffusen
Lichtschein um die hohen Bogenlampen auf der anderen Seite der Straße. Ich
prüfe vorsichtig die Bettdecke, dort wo sie meinen Körper umschließt, auf
undichte Stellen. Da ist kein Spalt zu ertasten, nichts, was darauf hindeutet,
daß kalte, feuchte Raumluft darunter gelangen kann. Die äußere, zweite Decke
liegt bunt und schwer und gerade auf der ersten, inneren unter der ich friere.
Das Hotelzimmer hat keine Heizung. Langsam drehe ich mich unter den Decken zur
Seite, reibe mit den Händen die Knie. Reibung verursacht Wärme. Ich bewege die
Zehen, anspannen, loslassen, anspannen, loslassen, zähle bis zehn, ziehe meine
Beine hoch, stecke sie wieder aus, ziehe sie hoch, so daß ich meine kalten Knie
mit den Händen fest umfassen und sie an mich drücken kann.
Wenn es doch schon Morgen wäre.
Vielleicht würde die Wolkendecke aufreißen, der Regen nachlassen und ein
Stückchen blauer Himmel mir sagen:
„Sieh
mal, so könnte es sein.“
So
ist es aber nicht. Am Abend, als der Regen nachgelassen hatte, war ich noch
einmal in das große Restaurant gegangen. Es liegt direkt gegenüber dem Hotel,
unmittelbar am Platz, da wo ich bis zum Meer schauen kann. Ich setzte mich
allein auf der Terrasse an einen der großen runden Tische, die viel Platz für
Familien bieten. In China setzt man sich nicht zu Fremden und kleine Tische
gibt es in diesem Restaurant nicht. Ich hatte eine Schüssel dampfend heißer
Nudelsuppe bestellt. Die Suppe sollte mich von innen wieder aufwärmen. Es ist
ein herrliches Gefühl gewesen, aus dem kurzen, gebogenen Plastiklöffel die
heiße Flüssigkeit zu schlürfen und die wohlige Wärme, die sich in mir
ausbreitete, zu genießen. Die Portion reichte aus, um mich bis zu den Fußsohlen
hinunter zu wärmen. Nach dem Essen lockerte ich meinen Schal ein wenig. Die
blaue Daunensteppjacke ließ ich zugeknöpft. Die anderen Gäste saßen wie ich in
dicker Winterkleidung hier draußen. Das Personal trug lange Steppmäntel und
Stiefel über weiten Hosen. Der Sommer war fast vorbei. Man zog sicher schon
eine lange Unterhose unter die Jeans. Die Menschen, die an weiß gedeckten Tische
im Innenraum hinter weit geöffneten Fenstern Platz genommen hatten, waren
genauso gekleidet. Ob drinnen oder draußen wir waren der Kälte ausgesetzt. Ich
hatte es ausprobiert, es war egal, welchen Tisch ich wählte, der Wind der vom
Südchinesischen Meer her wehte blies stetig vom Wasser kommend landeinwärts.
Heute Abend war es mir wichtig gewesen, daß der Platz an dem ich saß, im
Außenbereich war. Ich wollte über das Meer schauen. Nur von hier draußen hatte
ich diesen unvergleichlichen Blick bis zum Horizont. Die See schimmerte
bleigrau wie der Himmel. Ihre Wellen trugen schwer an schmutzig grauen
Schaumkronen. Ein menschenleerer weißer Sandstrand zog sich wie ein breites,
unregelmäßiges Band am Saum der Wellen entlang.
Ich kann das stetige Rauschen der
Wellen hören, obwohl ich mir das obere Ende der Decke halb über den Kopf
gezogen habe. Die See schafft es trotzdem akustisch bis zu mir ins Zimmer.
Seit
drei Tagen bin ich in Zhapoo auf der Insel Hailing südlich der Heizungsgrenze.
Am Strand den feinen Sand wollte ich spüren, wie er sich beim Laufen durch die
Lücken zwischen meinen Zehen quetscht, die Sonne Chinas auf meinen Armen
fühlen. Ich will das Meer sehen, mich an seinen Weite berauschen. Ich will dem
Klang seiner Wellen lauschen, sein Salz von meinen Lippen lecken, seine Luft
atmen, den Geruch seines Wassers in mir forttragen.
Einige Sehenswürdigkeiten des
riesigen Landes habe ich besucht, bevor ich hier ankam, China für
Fortgeschrittene. Die Schätze für König Zhao Mo, sein Jadekleid, das Grab von
Nan Yue in Guangzhou, die Fracht der Dschunke Nanhai 1, im eigens dafür
erbauten Museum. Nur auf die Grenze achtete ich weder bei meiner Planung, noch
bei der Durchführung meiner Reise. Südlich des Yangzi gibt es keine Heizung. Es
ist nicht erlaubt, mit Kohle zu heizen, andere Heizungen gibt es nicht. Die
Angestellten hinter der Hotelrezeption frieren in ihren dicken Mänteln wie ich
unter den zwei Decken in meinem Zimmer, in dem es nicht wärmer werden will. Sie
sind wie ich in dieser kalten Nacht Gefangene hinter der Heizungsgrenze.
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