Sonntag, 2. Oktober 2011

Der Tanz der Dame



Der Tanz der Dame

Die Eifersucht schießt heiß in mir hoch. Dieser Wunsch dazugehören zu wollen, endlich einmal mit zu machen, füllt mein Inneres aus. Ich sehe sie alle vor mir die Schönen, als Paare über den Tanzboden gleiten und bin neidisch. Da ist dieses Gefühl, als zöge mich ein gewaltiger, nicht nachlassender Sog hin zu ihnen. Warum bin ich nicht dort? Am liebsten würde ich vom Sofa aus direkt durch den Fernseher springen, mitten hinein in den großen, hellerleuchteten Saal. Mir bleibt keine Zeit, ihnen weiter zuzuschauen. Ich mache den Fernseher aus. Ich muß gehen, habe eine Verabredung.
„Wie war Dein Tanzkurs?“
Wir sitzen in Nellis Lieblingscafé an einem der kleinen Bistrotische. Meine Tochter schwärmt von Cha-Cha-Cha und Rumba. Von dem Gefühl des Triumphes, den Momenten in denen es ihr geglückt ist, die Schrittfolge einer Figur richtig zu tanzen und dem Takt zu folgen bis zur Perfektion. Mir steigt die Röte ins Gesicht. Wie gerne würde ich mich begeistert anschließen. Für sie bin ich alt, nicht auszudenken, wenn sie mich mit in ihren Tanzkurs nähme. Ich bin ihre Mutter und längst dem Alter in dem man tanzen lernt entwachsen, wie sie meint. Wer soll mich denn auffordern? Ja, aufgefordert werden möchte ich. Das gehört dazu in einer Tanzschule. Da geht man nicht allein auf die Tanzfläche meine Dame, hier wartet man. Das ist hier keine Disco. Bei uns tanzt man als Paar zusammen. Aber ein ganz Junger mit einer Alten, lächerliche Rumba, alle würde uns anstarren.
‚Guck mal, die beiden.’
Getuschel.
„Vier Schläge pro Takt bei achtundzwanzig Takten pro Minute.“
Vielleicht käme ein Kurs für Menschen meines Alters in Frage? Da gehen nur Pärchen hin, was soll da eine alleinstehende, ältere Dame? Für eine solche Person bliebe nur der Eintänzer, wie unangenehm. Selbst eine Äußerung Nelli gegenüber jetzt, in diesem Moment:
„Ach, das würde mir auch Spaß machen“, kommt nicht in Fragen. Was soll sie denn antworten?
„Mama, das wär’ voll peinlich!“
Nellis Stimme holt mich zurück in das kleine Café. Ich winke der Kellnerin:
„Zahlen bitte.“
Wir verabschieden uns draußen, der Bus bringt mich nach Hause. Ich schließe die Wohnungstür auf, stelle die Schuhe neben die Matte, hänge den Mantel an die Garderobe. Mein Tanzbuch, nach dem ich Walzer- und Rumbaschritte übe, liegt geschlossen auf dem niedrigen Couchtisch. In einunddreißig Tagen tanzen lernen. Ich versuche es und scheitere immer wieder kläglich. Das Buch ist keine große Hilfe. Trotzdem schlage ich es auf, irgendwann muß es doch klappen. Grundschritt Rumba die Dame beginnt mit links. Es klingelt an meiner Wohnungstür, gleich dreimal. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir die nächtliche Stunde an. Wer kommt denn jetzt noch, so spät? Ich wage es, durch den Spion zu schauen. Im trüben Flurlicht sehe ich einen Mann. Vorsichtig öffne ich die Tür. Ein gutaussehender Herr im dunklen Anzug steht vor mir. Er trägt ein weißes Hemd und hat eine hübsche Krawatte umgebunden. Das Tanzbuch hält er mit der linken Hand an seine Brust gedrückt, da wo das Herz schlägt. Er verbeugt sich vollendet und fragt:
„Darf ich bitten?“
Mein Herz klopft wild bis zum Hals hinauf, ein tiefes Atemholen verhindernd. Mir zittern die Knie. Meine Gedanken stehen still. Unfähig etwas zu sagen bitte ich ihn mit einer Geste herein. Von irgendwo erklingt Musik. Wir tanzen den Flur entlang, das Wohnzimmer hinter uns lassend, durch die kleine Kammer und wieder zurück in den Flur.
„Wie heißen Sie?“ flüstere ich in sein Ohr.
„Buch“, sagte er.
“Herr Buch, es ist wundervoll mit Ihnen zu tanzen.“
„Deshalb bin ich ja hier“, erwidert er charmant.
Bin das noch ich, die Person, die unbeschwert leichten Fußes tanzt, wie hundert mal geübt?  Meine linke Hand liegt wie eine Feder auf der Schulter des Herrn, der Arm gedreht in die Richtung in die getanzt werden soll. Die andere Hand eben seinen Arm berührend, während er sanft, doch bestimmt führt. Zuerst ein langsamer Walzer, dann die Rumba. Die Schritte geschleift, nicht gesetzt, dem Rhythmus der Musik gehorchend, ohne Pause die Hüfte mitlaufen lassen. Das Licht, glitzernd von den Spiegeln, die die Wand bedecken, in den Raum zurückgestrahlt, es gehört mir. Wir wechseln von einem Rhythmus in den nächsten, als läge nichts dazwischen, als nur der unbeschwerte Leichtsinn dieses einen Moments, den es braucht für eine solche Änderung. Ich tanze, habe kein eigenes Tempo, die Musik leiht mir ihres aus.
Auf einmal macht mein Partner eine unerwartete Drehung und das Buch klappt zu. Es fällt mit einem halblauten ‚Plopp’ auf den Boden. Plötzlich bin ich müde, erschöpft und frisch zugleich vom Vergnügen zu tanzen.
Seit diesem Montag treffen wir uns jeden Abend, verbringen viele zertanzte Nächte miteinander. Am Tag sehe ich müde aus, in der Nacht bin ich eine andere, die Tanzpartnerin eines gewissen Herrn Buch. Meine Tochter Nelli sieht mich nur noch selten. Meine Freunde wundern sich, daß ich kaum noch zu ihren Einladungen komme.
Herr Buch und ich, wir werden immer kühner. Am Sonntag haben wir uns tagsüber unserem Tanzvergnügen hingegeben, es ist wundervoll gewesen. Im hellen Sonnenlicht schien der Flur größer zu sein als je zuvor. Wir haben uns ganz der Musik überlassen und ich habe die Welt vergessen. Heute ist allerdings etwas geschehen. Herr Buch hat mich gefragt, ob ich eine neue Richtung kennenlernen möchte. Es gibt noch so vieles was wir beide bisher nicht probierten. Er spricht von Techno, Hip-Hop und Breakdance. Ich habe ganz entschieden nein gesagt. So etwas liegt mir nicht. Sollen andere das tanzen. Das ist nicht mein Rhythmus. An diesem Abend kann ich lange nicht einschlafen. Halb wach, halb träumend falle ich durch die Linien auf denen die Noten gerade und aufrecht stehen, schwarz auf weiß, verstecke mich in der Melodie, aber Herr Buch findet mich überall. Er versucht mir einzureden, daß mir die modernen Tänze genauso viel Spaß machen, wie Lateinamerikanische. schweißnass wache ich auf. Ich brauche frische Luft.
Hier am See ist es herrlich. Eine sanfte Brise weht seidig matt herüber. Rosarot schickt die untergehende Sonne ihre Strahlen zu mir und bis in die Wolken hinein. Färbt sie ein, die ehemals Weißen, mildert das grelle Licht des Tages ab. Ich gehe weit hinaus auf den alten Bootssteg. Das Tanzbuch halten meine beiden Hände sehr gut fest. Hinter mir klingelt es. Ich lege das aufgeschlagene Buch auf die abgetretenen Planken. Ich drehe mich um. Herr Buch verneigt sich vollendet.
„Darf ich bitten?“
Wir tanzen Rumba. Langsam geht der Tag zu Ende. Mitten in einer Drehung macht Herr Buch plötzlich einen Schritt über den Steg hinaus. Für einen Moment tanzt er durch die Luft.  Ich bin wieder allein. Auf den alten, brauen Holzbrettern stehend, sehe ich ihn weit draußen auf dem See. Er sitzt auf den aufgeschlagenen Buchseiten wie auf einem Floß. Seine Arme und Beine machen wilde, zuckende Bewegungen in die Luft. Sein Kopf ruckt hin und her, einem unhörbaren Takt folgend. Er dreht sich schnell und immer schneller um sich selbst. Das dunkle Wasser des Sees unter ihm fließt ruhig dahin, die Wellen schlagen leise ans Ufer. Der See trägt meinen Kavalier auf dem Tanzbuch immer weiter fort von mir.

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